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Das Leben

Erhältlich ab: Sj 2.004

Ursprung: Terra

Land: Teutonia

 

 

Original: © Juni 2004 Blum

eBook: © Juni 2012 choose your art

Titelbild, Gestaltung & Satz: Blum

Korrektur: Sim

 

Speyer, Deutschland

Alle Rechte vorbehalten

 

Lieber Leser, solltest du Anregungen oder Kritik für unsere Produkte haben, würden wir uns sehr über eine eMail von dir freuen: xo@karma23.de

 

Für Sim und alle die Angst haben

 

Vor nur einem Tag und einer Nacht lag ich noch auf dem Rücken eines Wales. Um mich herum gab es nichts als die Weite des Pazifischen Ozeans und mein Name ist dabei keinesfalls Kapitän Ahab. Die irrsinnige Geschichte, die mich in diese überaus merkwürdig anmutende Situation brachte begann auch nicht in einem kleinen Walfangort mit dem Namen New Bedford und ich stamme nicht einmal aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Statt dessen verbrachte ich die längste Zeit meines Lebens in der alten Welt, genauer gesagt in Deutschland. Doch auch ich habe wie der Walfänger nur einen Fuß. Wie ich nun also hier her komme? Nun, dies zu erzählen steht mir der Sinn, denn meine Geschichte geht jeden Mann und jede Frau an.

Ich war erst vierundzwanzig Jahre alt als ich mein Studium als Biologe mit Bravur abschloss. Ich möchte sagen, dass ich geradezu als Musterschüler galt und das nicht als Angabe, sondern als pure Information. Diese ist wichtig um zu verstehen, dass ich an all meinen Problemen, die hernach folgten selbst und vor allem ganz allein die Schuld trug. Ich bin mir dessen bewusst, doch war ich es nicht immer.

Ich machte also meinen Abschluss und konnte mich von nun an in der Welt der Hybridisierung mittels radioaktiver Sonden, des Immunolabelings, der Isolierung genomischer DNA und der Transformation und Blau-Weiss-Selektionen behaupten. Anbetracht der Tatsache, dass mein Vater – seinerseits selbst ein angesehener Professor der Biologie an der Universität von Bayreuth – über die allerbesten Kontakte verfügte, dauerte es natürlich nicht lange, bis ich eine Stelle in einem Labor einer der angesehensten Pharmakonzerne meiner Region antreten konnte. Von diesem Zeitpunkt an ging es mit mir im Sauseschritt die Karriereleiter hinauf.

Zuerst starrte sie noch eine Sekunde durch die Schlieren ihres Whiskey-Glases. Doch dann ging ein Ruck durch ihren Körper und ihre Augen wurden klarer und suchten nach der Quelle der Ansprache. Es war, als hätte sie zuerst übersetzen müssen, was da an sie herangetragen worden war. Zum ersten Mal blickte ich in ihre faszinierenden blauen Augen und verlor mich auf immer in ihnen. Dies zumindest war das Empfinden, welches mich damals wie eine Sturmwoge aus meinen italienischen Halbschuhen zu fegen drohte.

Ich starrte sie an. Sie hatte offenbar nicht verstanden was ich von ihr wollte und bat mich, meine Rede zu wiederholen. Ihre Stimme war freundlich und es war eindeutig, das die Tiefe ihrer Augen durch den Genuss von Alkohol verstärkt wurde. Ich versuchte ein Lächeln und fragte einfach, ob ich mich setzen dürfe.

Dann musste sie lachen und ich schüttete mir den Innhalt meines Glases über die Hose. Ich weiß, dass diese beiden Vorgänge eigentlich umgekehrt hätten stattfinden sollen, aber es war wie ich es beschreibe und so sollte es noch oft auf unseren gemeinsamen Wegen kommen. Hanna wusste so unglaublich oft was ich als nächstes tun würde, dass sie mir zuweilen geradezu unheimlich war.

Wir unterhielten uns die ganze Nacht. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und ich wurde es nicht müde, ihrer Geschichte zu lauschen. Während sie sich mit der Linken immer wieder die widerspenstigen haselnussbraunen Locken aus der Stirn strich, erzählte sie mir von ihrem Weg aus den USA nach München. Sie sprach von ihrer Kindheit in Miami, wo sie bei einer Tante gelebt hatte und von ihrer Studienzeit in New York, von ihrem Vater der Detektiv des NYPDs war und von zwei Schwestern und einer Mutter, die in der Lage war, gleichzeitig die weltbesten Muffins zu bereiten und Arien aus der Aida zum Besten zu geben. Ich war derart hingerissen von dieser lebenslustigen Frau, dass ich ihr, ohne die Hürden von Anstand und Moral, wohl noch in dieser Nacht einen Heiratsantrag gemacht hätte. Statt dessen wartete ich genau drei Monate bis wir uns, mehr oder weniger durch Zufall, auf einer Weihnachtsfeier der Firma wieder trafen.

Ja, ein derartiger Feigling war ich. Ich hätte sie nach ihrer Telefonnummer fragen können. Ich hätte zumindest fragen können, in welcher Abteilung sie arbeitete. Ich hätte sie für den nächsten Tag zum Essen einladen können. Nein, nichts von alledem geschah. Jahre später tröstete ich mich über die Erkenntnis meiner Feigheit zuweilen mit dem Gedanken hinweg, dass ich sehr müde und stark angetrunken gewesen war, aber ganz ehrlich, ich war mir durchaus bewusst, dass es mir einfach an Mut gefehlt hatte.

Hanna war wunderschön, hatte offensichtlich ein ordentliches Einkommen und darüber hinaus war sie überaus belesen und wortgewandt. Warum hätte diese Frau sich mit mir verabreden sollen? Sicher hatte sie einfach einen schlechten Tag hinter sich gehabt und sich einfach mit dem ersten Besten unterhalten, der zur Verfügung gestanden hatte, aber ein Wiedersehen … kaum.

Als ich an besagtem Abend die Räumlichkeiten der Feier betrat, kam sie direkt auf mich zu. Sie erkannte mich sofort und freute sich offensichtlich, mich zu sehen. Mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen harkte sie ich bei mir ein und beteuerte, wie sehr sie sich freue, dass unsere beiden Gruppen beschlossen hatten, die Weihnachtsfeier im gleichen Lokal zu begehen. Sie stellte mich etwa einer Million neugieriger Kolleginnen und einigen extrem adrett wirkenden Vorgesetzten in teuren Zweireihern vor. Sie tat dabei, als seien wir längst miteinander verlobt. Später gab sie mir gegenüber dann einmal zu, dass sie dies damals auch tatsächlich ganz ähnlich gesehen hatte. Sie hatte sich an dem Abend im Hotel in mich verliebt und war sich absolut sicher, mich wieder zu sehen und so war es ja auch gekommen. Wie gesagt, ihre merkwürdige Gabe scheinbar die Zukunft einschätzen zu können, wurde sogar bei unseren gemeinsamen Freunden zu einer Art kleinen Legende.

Wir flogen gemeinsam nach Italien und verbrachten dort drei wundervolle Wochen. Ich will nicht auch noch seitenweise über unsere Leidenschaft und unsere gegenseitige Hingabe berichten und ich werde auch nicht versuchen, unsere Küsse mit denen Julias und Romeos zu vergleichen, denn es gibt wahrlich genug Lektüren dieser Art, aber so viel sei gesagt: Wir liebten uns wahrhaftig.

Ein halbes Jahr später zog sie zu mir. Zuerst war das kompliziert, weil ihre Arbeitsstelle fast zweihundert Kilometer von meiner entfernt lag. Dann aber ließ sie sich versetzen, was auch noch zu einer besseren Gehaltsstufe ihrerseits führte. Es gab eine Zeit, da dachte ich, dass ich in dieser Phase meines Lebens alles Glück meines gesamten Daseins auf einen Schlag verbraucht hätte. Heute weiß ich, dass ich mich damals irrte.

Die kommenden zwei Jahre waren eine Aneinanderreihung von Wundern für mich. Ich arbeitete und wurde zum Laborleiter. Wir zogen in ein größeres Haus. Ein gemeinsamer Urlaub in den Staaten (ich lernte ihre Familie kennen) und kurz darauf eine weitere Reise, diesmal nach Japan, schweißten uns zusammen. Wir aßen Lobster-Schwänze in NY und erlebten einen Sonnenaufgang in einem wunderschönen Hotelzimmer in Tokyo. Sie war das Leben in seiner reinsten Form für mich.

Zu Hause ließ ich keine Woche vergehen, ehe ich ihr endlich den Antrag machte. Ich hatte noch in Tokyo einen Ring gekauft und konnte es nicht abwarten, bis wir zusammen im Restaurant waren und kniete darum in unserem Wohnzimmer vor ihr.

Sie lächelte auf mich herab und griff nach etwas, das unter einem Kissen auf dem Sofa gelegen hatte. Im ersten Moment dachte ich schon, sie würde mir jetzt eine Zeitschrift überbraten und musste lachen, aber dann hielt sie mir einen dünnen Katalog mit Brautkleidern und Hochzeitszubehör vor die Nase. Sie hatte es natürlich gewusst.

Wir heirateten keine drei Wochen später. Ihre Eltern und zwei der Schwestern kamen und lernten meine Familie kennen. Alles verlief reibungslos. Zwei ehrwürdige Clans verschmolzen voller Wohlwollen miteinander. Wir beide waren der ultimative Inbegriff des Glücks für all unsere Verwandten und Freunde und wohl auch für unsere Kollegen und entfernteren Bekannten.

Die Hochzeitsreise führte uns nach Venedig. Das war zwar etwas klischeehaft, aber dennoch war es auch wunderbar romantisch. Ihre romantische Ader war mir mittlerweile so lieb geworden, dass mir sogar der stinkende Canale Grande wie eine Landschaft aus einem Kindermärchen vorkam. Alles war wie in einem Traum. Das Erwachen war dann weniger romantisch.

Ein halbes Jahr nach der Hochzeit begannen die Schmerzen. Sie klagte zuerst über ein Stechen in der linken hinteren Schädelhälfte. Als sie es zum zweiten Mal sagte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht und jede Hoffnung schwand aus meinem Herzen. Sie wusste genau, was es war und ich glaubte ihr bedingungslos. Nach zwei Wochen intensiver Untersuchungen stand das Ergebnis fest: Krebs.

Die Metastasen waren soweit fortgeschritten, dass eine Operation ausgeschlossen werden konnte. Die Chemotherapie raubte uns zwei Drittel der kurzen Zeit, die sie noch haben sollte.

Als sie im zweiten Jahr der Krankheit schließlich drei Tage vor Weihnachten starb, zerbrach ich zum ersten Mal in meinem Leben. Bis zu diesem Tage war ich zu jedem Zeitpunkt meines Lebens mit offenem Verdeck in einem Cabrio auf der Überholspur des Glücks gefahren. Jetzt hatte ich bei voller Fahrt den LKW auf der Gegenspur gerammt.

Die Trauer meiner Familie war überwältigend. Hanna war so schnell Teil ihres Lebens geworden, dass sich keiner vorstellen konnte, wie es ohne sie weiter gehen sollte. Ich für meinen Teil wollte niemanden sehen. Alles war mir zu wider. All die Liebesbeteuerungen meiner Mutter, die freundschaftlichen Gespräche unserer gemeinsamen Freunde, die doch fast alle sie mit in die Beziehung gebracht hatte, all die Briefe und die mitleidigen Blicke – ich hätte all dies am liebsten mit Feuer und Schwert aus meiner verwüsteten Welt vertrieben.

Stattdessen hockte ich nur Stunden, Tage und Wochen herum und nickte. Ich erinnere mich, dass ich oft nächtelang wach lag und mich über die Schmerzen im Genick wunderte. All die Zeit über weinte ich nie. Aber ich nickte.

Nach einem Monat nahm ich meine Arbeit wieder auf. Das macht man so. Einen Monat nimmt man Urlaub. Dann muss man all den Kollegen nicht in die verkniffenen Gesichter blicken. Nach einem Monat aber hat man wieder zu funktionieren. Ich funktionierte.

Meine Vorgesetzten gingen behutsam mit mir um, denn sie mochten mich ja und wollten mich nicht verlieren. Woher hätten sie wissen sollen, dass ich noch nie derart getroffen worden war? Ich hatte noch Reserven. Meine Liebe war tot, aber meine Jugend und mein bisheriges Leben hatte mir gezeigt, dass die Realität Glück war. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was vor mir lag.

 

Der brutale Einschlag kam genau vier Monate nach Hannas Tod. Mein Vater und meine Mutter hatten eine Reise nach Kairo gebucht. Sie waren zwei von achtzehn deutschen Touristen, die bei einem Bombenattentat ums Leben kamen. Als man mich benachrichtigte, glaubte ich zuerst an einen dummen Scherz.

Die Nachrichten im Fernsehen lehrten mich eines Besseren. Diesmal sollte es ein klein wenig länger dauern, bis ich mich erholte. Ich war fassungslos und mit diesem neuen Schicksalsschlag bahnte sich auch Hannas Tod endlich in all seiner Realität seinen Weg in mein Herz.

Die Gefühle des Verlusts kamen wie die Druckwelle einer Bombe über mich und schüttelten mich aus meiner ach so stabilen Umlaufbahn des Lebens.

Zuerst versuchte ich, den Trick mit dem Urlaub. Einen Monat in meinem Haus. Ich gewöhnte mich an Hausschuhe und Pizza vom Bringdienst. Dann ein weiterer Monat.

Mein direkter Vorgesetzter machte sich Sorgen und fand es nicht sonderlich lustig, von meinem weiteren Urlaubswunsch nur in schriftlicher Form benachrichtigt worden zu sein. Im dritten Monat lud man mich zu einem Gespräch, zu dem ich nicht erschien. Ich trank und nahm eine unglaubliche Menge an Kopfschmerztabletten und sowohl mein geistiger als auch mein körperlicher Zustand verschlechterten sich zusehends.

An meinem vierzigsten Geburtstag hockte ich allein im Wohnzimmer meines Hauses und starrte auf ein sich immer und immer wieder füllendes Whiskey-Glas. Warum erst meine Eltern sterben mussten, um den Tod als solches, als Eingriff in mein Leben zu erfahren, weiß ich bis heute nicht. Aber ich betrauerte nicht sie. Ich betrauerte mein Leben an sich.

Dann besuchte mich mein Chef. Eines Tages klingelte er einfach an meiner Tür. Mir ist nicht bekannt, dass er oder ein anderer Vorgesetzter der Firma so etwas schon einmal getan hätten. Er redete eine Stunde lang auf mich ein. Er drohte mir nicht mit Konsequenzen und hielt mir auch nicht meine Verwahrlosung und die des Hauses vor. Er sprach ausschließlich davon, dass ich am Leben war und dass die Firma und er mich brauchten und mein Urlaub nun vorbei wäre.

Am nächsten Tag erschien ich im Anzug und frisch rasiert auf der Arbeit. Alle taten so, als sehe ich gut aus oder behandelten mich zumindest neutral, als sei nichts geschehen. Ich arbeitete.

 

Der nächste Schicksalsschlag auf meinem Weg ließ nicht lange auf sich warten, brachte aber auch wieder ein wenig Licht in mein Leben. Etwa ein halbes Jahr später hatte ich einen Autounfall. Ich fuhr mit meinem Wagen von der Arbeit nach Hause und war wie so oft viel zu schnell. Auf Geschwindigkeitsbegrenzungen achtete ich schon lange nicht mehr. Was hatte ich schon zu verlieren? Einen Fuß, ganz einfach.

Als ich am Morgen zur Arbeit gefahren war, konnte man die Straßen noch als sicher bezeichnen. Es war Dezember und es hatte noch keinen Schneefall gegeben. Über Tag hatte es leicht geregnet und gegen Abend war dann die Temperatur dramatisch gefallen. Auf einer der kleinen Brücken, über die ich auf dem Nachhauseweg immer fuhr, verloren dann meine breiten Sommerreifen die Haftung und bescherten mir so einen Freiflug von mindestens acht Metern in den Straßengraben. Dabei rammte mein Wagen zweimal die Brüstung aus Sandstein und verwandelte sich dabei in eine Art Menschenpresse. Dass ich den Unfall überlebte, konnte ich damals nur als reine Boshaftigkeit des Schicksals empfinden.

Ich kam offenbar recht schnell wieder zur Besinnung, denn der Wageninnenraum – soweit man dieses Konstrukt aus zersplittertem Glas und aufgebrochenen Kunststoffteilen noch so nennen konnte – war noch einigermaßen warm. Ich fummelte nach meinem Handy und wunderte mich noch, dass es funktionierte, obwohl die Anzeige eingedrückt war. Als der Krankenwagen ankam, war es für meinen Fuß zu spät. Nicht, dass ich den Schmerz gespürt hätte. Der kam erst viel später, als ich nach zwei Nächten und einem Tag im Krankenhaus wieder zu mir kam. Sie hatten nicht einmal versucht, den Fuß wieder anzunähen.

Die Ärzte erklärten mir, dass er von vornherein verloren gewesen wäre. Abgequetscht, keine möglichen Nahtstellen, komplette Zerstörung des Gewebes. Dafür hätte man mir die drei Finger der linken Hand wieder angenäht und die Rippenbrüche und anderen Verletzungen würden auch wieder verheilen. Immer wieder nahmen sie das Wort Wunder in den Mund. Ich hörte mir all das an und nickte.

Das Gute an der Sache war dann Sabrina.

Sie war meine Krankengymnastin. Nach vielen Wochen im Krankenhaus und zwei Nachoperationen, die notwendig geworden waren, weil weiteres abgestorbenes Gewebe entnommen werden musste, war eine ausgiebige Reha nicht zu umgehen. Eine Fußprothese angepasst zu bekommen, ist wie das erste Mal auf einem Rollschuh zu stehen. Mein Lebenswille war darüber hinaus auch nicht gerade legendär. Als ich das erste Mal von einem Zivi vom Krankenhaus zur Reha gefahren wurde, wollte ich einfach nur noch sterben.

Sabrina war Polin. Sie lebte seit über zehn Jahren in Deutschland, aber ihren Akzent hatte sie nicht ganz ablegen können. Sie war eine kleine freundliche Person, in deren Gegenwart selbst noch so mächtiger Trübsinn chancenlos aufgeben musste. Sie arbeitet wie ein Berserker an mir. Drei Mal die Woche musste ich bei ihr ›antanzen‹, wie sie es nannte und dann quälte sie mich mit Narbenmassagen und ersten Gehversuchen.

Als man die Nägel aus meinem Bein entfernte, feierte sie das mit mir wie der Kerl und die Frau in der Yes-Törtchen-Werbung im Fernsehen. Ihr Schokokuchen schmeckte gut. Ich erinnere mich, dass ich während der Jahre unserer Ehe fast zwanzig Kilo zugenommen hatte.

Trotz ihrer unglaublichen Energie machte ich nur langsam Fortschritte. Auch ließen mich zuerst ihre Annäherungsversuche kalt. Erst, als sie eines Abends die Sache konkret und in ihrer unglaublich direkten Art in die Hand nahm, gab ich auf. Ich ließ mich treiben aus einem Gemisch aus Selbstmitleid und Hass auf das Schicksal und behandelte sie oft nicht sonderlich freundlich, aber ihre Arbeit und ihre Menschenkenntnis ließen sie wissen, dass sich dieser Zustand ändern konnte.

Sie liebte mich und diese Liebe war stark genug, mich noch einmal aus dem Taumel der Trauer und der Selbstaufgabe zu befreien.

Es war knapp. Eine Woche, nachdem wir uns kennenlernten, hatte ich versucht, mich umzubringen. Mit Tabletten. Natürlich pumpten sie mir im Krankenhaus den Magen aus. Sie wusste von der Sache.

Ich versprach ihr schon bald, es nicht wieder zu tun. Wir trafen uns nach der Reha bei ihr und sie kochte für mich. Dann besuchte sie mich und lachte über meinen Saustall. Ich lachte nicht, fügte aber sarkastisch hinzu, dass ich seit Monaten meine Post nicht geöffnet hatte und fest davon ausging, inzwischen meinen Job verloren zu haben. Natürlich hatte man mich im Krankenhaus besucht. Sie hatten mir zugesagt, dass ich jederzeit wiederkommen könne. Wiederkommen – das war, als hätten sie mir vorgeschlagen, mit Charons Fähre rückwärts den Fluss Styx aus dem Hades ins Reich der Lebenden zu fahren. Dabei sollte doch wirklich jeder wissen, dass nur Götter das Totenreich betreten und mehr oder minder schadlos wieder verlassen können.

Sabrina und ich lebten zwei Jahre zusammen in ihrer Wohnung. Das Haus hatte ich auf ihr Anraten verkauft. Meine Stelle hatte ich nicht wieder angetreten. Ich konnte die Gesichter nicht wieder sehen. Ein halbes Jahr lang war ich ohne Arbeit, aber finanziellen Reserven waren ausreichend vorhanden und als Sabrina schließlich schwanger wurde, zahlten wir ein Haus an und heirateten kurzerhand.

Mein Leben schien eine Achterbahn zu sein. Ich war in der Aufwärtskurve. Monate lang renovierten wir und endlich machte ich auch beim Laufen Fortschritte. Dass ich oft mehrere Nächte hintereinander aufwachte und Hannas Namen schrie, verzieh Sabrina mir genauso wie meinen Hang zum Trübsinn, wenn sie mich alleine ließ.

Einmal musste sie an einem Seminar in Dresden teilnehmen. Sie war eine Woche weg. Ich schaffte es einfach nicht, mich um das Haus zu kümmern. Als sie zurückkam, schimpfte sie wie eine liebende Mutter mit mir. Dann liebte sie mich.

Als sie im siebten Monat schwanger war, taute ich vollends auf. Achim sollte mein Erstgeborener heißen. Ich hatte sieben Monate gebraucht, um es zu realisieren, aber jetzt verzogen sich die Nebel langsam. Ich begann zu leben. Mit aller Kraft beschwor ich den Mann herauf, der ich war und schließlich schaffte ich es wieder auf den eigenen Füßen – oder sagen wir auf dem einen Fuß – zu stehen.

Ich kümmerte mich um das Kinderzimmer und baute mit meinen eigenen Händen eine Wiege für meinen Sohn. Dann schrieb ich eine Bewerbung und wurde prompt genommen. Ich hatte ein etwas niedrigeres Einstiegsgehalt als in der anderen Firma, aber das machte nichts. Gruppen- und Laborleiter wollte ich ohnehin nicht mehr sein. Die Zeiten, in denen ich mit aller Gewalt an meiner Kariere gearbeitet hatte, waren vorbei. Ich wollte mich meiner Familie widmen und die Geister meiner Vergangenheit vergessen.

Achim kam pünktlich drei Tage vor meinem eigenen Geburtstag im Sommer zur Welt. Er war kerngesund, hatte die Augen seiner Mutter und der Rest seines kleinen faltigen Babygesichts machte den untrügerischen Anschein, meinem eigenen Konterfei entsprechen zu wollen. Mein Herz wollte vor Freude zerspringen und tat dies beinahe auch. Als ich die erste Nacht nach der Niederkunft allein zu Hause war, stand ich allen Ernstes fast zehn Minuten vor dem Spiegelschrank in unserem Bad und dachte nur an Rasierklingen. Warum? Ich weiß es nicht. Die Freude war wohl ebenso heftig wie die Trauer, die mich so lange gebeutelt hatte und jetzt hatte mein Geist Probleme, die Unterschiede der beiden Empfindungen ordentlich zu differenzieren. Ich ließ den Spiegelschrank hinter mir und was kam war Sonnenschein. Zumindest fürs Erste.

Ein Jahr verging wie im Flug und Achim machte seine ersten Erkundungsversuche durchs Haus. Ich weiß nicht, ob es anhand meiner Erzählung deutlich geworden ist, aber meine Gefühle für Sabrina konnten an Intensität nie jene, die ich einst für Hanna empfunden hatte, erreichen. Dies lag nicht allein an ihrer Person oder an der Hannas, es lag wohl in erster Linie an mir selbst. Ich war nun ein eher in mich gekehrter Mensch, der immer ein wenig darauf wartete, dass einer der Titanen des alten Griechenlands erwachte und seinen Fuß auf der Fläche meines Hauses niedersetzte. Ich war oft missmutig. Sabrina behandelte diese Stimmungsschwankungen wie eine professionelle Therapeutin, was mich zuweilen wahnsinnig zu machen drohte, oft aber auch beruhigte, denn ich sah ja ein, dass es nichts brachte, immer nur schwarz zu sehen.

Genau ein Jahr nach Achims Geburt war Sabrina wieder in anderen Umständen. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, da sie es mir sagte. Sie hatte gekocht und Kerzen aufgestellt. Sonst war sie nicht so romantisch und so wusste ich, dass etwas Besonderes anstand. Während ich genüsslich an ihren Spagetti Carbonara saugte, blickte sie mit glänzenden Augen auf, erhob ihr Chianti-Glas und erklärte, der Name der Kleinen solle Anna sein, nach ihrer Großmutter. Ich erschrak zuerst, doch nach dieser Schrecksekunde erfüllte sich mein Herz mit einer derart übergroßen Freude, dass an Weiteressen nicht mehr zu denken war. Den ganzen restlichen Abend lagen wir Arm in Arm im Wohnzimmer, Achim auf dem Teppich vor dem Sofa und streichelten uns. Ich war glücklich. Meine Familie wurde vollzählig. Ich hatte wieder eine Familie.

Wieder baute ich eine Kinderwiege und dieses Mal gab es auch keine negativen Gedanken mehr. Es ging mir hervorragend. Keine zwei Monate später wurde ich zudem befördert und meine Lohntüte wurde vom Schicksal an die neuen Verhältnisse für vier zu ernährende Bäuche angepasst. Ich lobte das Schicksal.

Dann eines Tages, es war am Wochenende, war ich allein in einem Großmarkt einkaufen. Sabrina hatte sich an diesem Samstagvormittag mit einer Freundin und Kollegin verabredet und hatte Achim meiner Obhut überlassen. Mit dem Kinderwagen stolzierte ich durch den Laden und suchte die Dinge aus, die wir so für die kommende Woche benötigen würden. Als ich unachtsam um eine Ecke bog, rammte ich einen Mann und sein Rucksack, den er vor seinem Bauch getragen hatte, fiel zu Boden. All seine Einkäufe verstreuten sich zwischen uns.

Zuerst erfasste ich die Lage gar nicht, aber dann drehte er sich zu mir um und ich sah in seine kalten sehr sehr bösen Augen.

Er muss so Mitte dreißig gewesen sein, hatte dunkles struppiges Haar und war unrasiert. Überhaupt machte er einen eher schlampigen Eindruck in seinem schmuddeligen Nato-Parker und den an vielen Stellen geflickten Lederhosen. Als er den Mund auf machte und mich wüst beschimpfte, wurde mir mit einem Mal klar, was hier wirklich vorgefallen war. Er hatte nicht seine Einkäufe fallen lassen, sondern sein Diebesgut. Er hatte nicht vorgehabt die Sachen zu bezahlen. Natürlich gab es dafür keinen Beweis, aber ich war mir absolut sicher. Wie froh war ich, dass just in dem Moment mehrere andere Einkäufer und auch ein älterer Herr des Ladenpersonals in den Gang einbogen. Der Kerl, den ich gerammt hatte schnappte seinen Rucksack, ließ all die Waren am Boden liegen und stiefelte davon. Er fluchte immer noch und drohte mir. Ich war einigermaßen aufgeregt, aber ich wollte die Sache auch dabei beruhen lassen. So ging ich meiner Wege und strebte langsam zur Kasse. Als ich draußen auf dem Parkplatz ankam, konnte ich gerade noch mit ansehen, wie der vermeintliche Dieb von zwei Beamten in ein Polizeiauto geschoben wurde. Offenbar hatte das Marktpersonal die Gesetzeshüter informiert, und zwar schon lange vor unserem Unfall, denn sonst hätten sie unmöglich so schnell hier sein können.

Er wehrte sich und als er sich beinahe losriss, streifte sein Blick den meinen. Ich stand wie betäubt an meinem Kombi, doch der Spuk war bald vorbei, denn die Polizei machte nun keine halben Sachen mehr. Schnell waren die Wagentüren geschlossen. Dennoch blieb mir nicht erspart mit ansehen zu müssen, wie er drinnen den Hals verdrehte und sich selbst mit dem Zeigefinger über die Kehle fuhr und mich dabei anstarrte.

In der folgenden Nacht hatte ich schlimme Alpträume. Ich sah das Gesicht meines Vaters vor mir und weinte, weil er mich beschimpfte.

Ich erzählte Sabrina nichts von den Geschehnissen des Tages. Natürlich wollte ich sie nicht beunruhigen. Vielleicht hätte es etwas geändert, wenn ich mit ihr gesprochen hätte, aber es spielte keine wirkliche Rolle. Es war egal, ob ich zusätzlich an einem schlechten Gewissen litt, weil ich nicht geredet hatte. Es war schlimm genug, dass ich nicht da gewesen war.

Genau eine Woche nach dem Zusammenstoß im Supermarkt war ich mit einem Arbeitskollegen beim Schwimmen. Wir trafen uns alle vierzehn Tage samstags morgens und ich wechselte mich so mit Sabrina ab. Als ich gegen Mittag nach Hause kam, stand die Tür offen und der Kombi hatte eine eingeschlagene Heckscheibe. Es war, als hätte mich ein Hammer mitten ins Gesicht getroffen.

Was nun folgte, kann ich nur noch aus sehr ungenauen und alptraumhaften Erinnerungen rekonstruieren. Ich war wohl ins Haus gestolpert und erblickte sogleich das Chaos in unserem Wohnzimmer. Überall lagen Einkaufstüten herum. Sabrina war am Morgen einkaufen gewesen wie ich die Woche zuvor. Die Konservenbüchsen lagen teilweise in den Glasvitrinen, so dass ich sofort erkennen musste, was hier los gewesen war. In der Mitte des Zimmers gab es einen kopfgroßen Blutfleck!

Ich rannte nach Atem ringend die Treppe nach oben. Als ich über die Schwelle unseres Schlafzimmers trat, prallte ich gegen ihn. Ich fiel auf meinen Hintern, er blieb stehen. Sofort erkannte ich ihn. Er trug denselben schmutzigen Parka und er war ebenso unrasiert und stank nach billigem Schnaps. In seiner Hand hatte er eine Weißblechdose. Sie war rot vom Blut. Mit irrem Blick holte er aus, überlegte es sich im Bruchteil einer Sekunde anders und trat mich mit seinen bestiefelten Füßen mehrmals in die Rippen. 

Zuerst schrie ich, aber seine Angriffe ließen nicht nach und innerhalb kürzester Zeit blieb mir die Luft weg. So blieb ich einfach zusammengekrümmt liegen und wünschte mir den Tod. Längst hatte ich begriffen was geschehen war. Schon nach dem zweiten Tritt war mir klar geworden, dass mein Leben keinen Sinn mehr haben würde. Mein Gehirn schaltete ab. Ich starb innerlich und erwartete auch mein leibliches Ende. Er verwehrte mir diese Gnade und ging, ehe die Nachbarn die Polizei alarmieren konnten. Mein Leib überlebte und somit war mein Geist dazu verdammt, das komplette Ausmaß der Tragödie zu erkennen.

Ich erwachte erst wieder im Krankenhaus. Neben meinem Bett saß ein mir fremder Mann, der sich müde als Mitglied der Kriminalpolizei vorstellte. Ehe ich etwas sagen konnte, kamen ein Arzt und zwei Schwestern in das Zimmer. Es war Nacht. Alle starrten mich an. Ich wollte etwas sagen, Fragen stellen. Ich öffnete den Mund, aber der Blick des Beamten verhinderte, dass sich auch nur ein einziger Laut meiner Kehle entwinden konnte. Ungläubig blickte ich ihm in die Augen und schließlich überwand er sich und sprach mit ruhiger Stimme, der aber ein unsicherer Unterton anhaftete.

Sie waren zu spät gekommen. Der Einbrecher hatten den Ort des Geschehens längst verlassen, als die Polizei eingetroffen war. Sie konnten nichts mehr tun. Nicht für meine Frau und meinen Sohn. Ich wusste, dass sie damit auch nichts für Anna hatten tun können.

Ich lag in dem Krankenhausbett und mein Körper war Schmerz. Etwas düsteres, merkwürdig Entspannendes legte sich über mich und machte meine Welt zu einem alles umfassenden, dumpfen Wattebausch. Ich schloss die Augen und konnte dennoch sehen. Ich sah diesen Polizisten, ich sah den Arzt und die beiden Mädchen. Mit geschlossenen Augen betrachtete ich die Hölle, in die man mich geschleudert hatte. Das Piepen der Maschinen neben meinem Bett wurde zum Flüstern von Dämonen. Das rascheln der steifen Krankenschwesternkittel wurde zu ledernen Schwingen. Ich konnte das Atmen des Beamten hören. Er redete, aber ich verstand nicht, was er sagte.

Wollte er wissen, was ich über den Täter wusste? Wollte er hören, dass der Kerl ein Dieb war? Dass sie ihn vor einer Woche bei einem Ladendiebstahl hätten festnehmen können, wenn ich nicht so dumm gewesen wäre, ihn mit dem Einkaufswagen zu rammen? Sie hätten ihm etwas nachweisen können, wenn ich nicht dafür gesorgt hätte, dass er kein Diebesgut mehr bei sich trug, als man ihn festnahm. Er hätte mich nie kennenlernen, nie sehen brauchen. Er hätte sich nicht das Nummernschild unseres verdammten Kombis merken können, wenn ich nicht auf den Parkplatz gekommen wäre. Warum? Was hatte ich getan? Gott, warum?

Sie wussten nichts über ihn. Am nächsten Morgen waren mehrere Polizisten bei mir. Sie wollten alles hören, was ich zu sagen hatte. Zuerst stellte ich selbst Fragen. Was geschehen war. Wohin sie meine Frau und meinen Sohn gebracht hatten. Die Antworten kamen verhalten. Schnell stellten sie ihre eigenen Fragen, um nicht weiter Antworten auf Dinge geben zu müssen, für die es keine Antworten gab.

Ich sagte ihnen, dass sie ihn finden würden. Vor einer Woche hätten sie ihn schon einmal eingesperrt. Es sollte sich herausstellen, dass ich mich irrte. Klar, hatte man ihn mit auf die Wache genommen. Zumindest konnten sich drei Beamte dort an sein Gesicht erinnern, nachdem man nach meinen Angaben eine Skizze gefertigt hatte. Klar, hatte man einen Namen notiert. Aber dummerweise hatte er keine Papiere bei sich gehabt und das Versprechen, sie nachzuliefern hatte er leider nicht erfüllt. Sie hatten ihn gehen lassen. Was hätten sie tun sollen? Kein Diebesgut und keine Beweise. Das Herunterwerfen von Waren in einem Einkaufszentrum und die Tatsache, dass er sich nicht ausweisen konnte, hatte den Beamten an einem Samstagnachmittag nun einmal nicht gereicht. Sie hatten ihn gehen lassen.

Mein Sohn, meine Frau, meine ungeborene Tochter – alles wofür ich lebte, war durch die Hand eines Irren vernichtet. In der dritten Nacht im Krankenhaus nähten sie mir die Pulsschlagadern. Danach stand ich für eine lange Zeit unter Medikamenten und so erinnere ich mich nur undeutlich, wie ich vom Krankenhaus in die Nervenheilanstalt überliefert wurde. Man stellt sich immer vor, dass man es als das Schlimmste an Zwangsjacken empfindet, wenn einem die Nase juckt, aber das ist nicht wahr. Das wirklich Schlimmste ist, dass man keine Hand mehr frei hat, um sich eine Pistole in den Mund zu schieben und abzudrücken.

An die erste Zeit erinnere ich wirklich überhaupt nicht. Ich weiß nicht, womit sie mich alles vollgepumpt haben. Meine ersten klaren Gedanken zeichnen mir das Bild einer Parkbank und eines Rollstuhls. Auf der Bank sitzt ein junger Pfleger und liest in einem gelben kleinen Buch. Ich glaube, es war Rilke. In dem Stuhl sitzt ein alter Mann mit grauen Schläfen und nur einem Fuß. Die Prothese war hier nicht erlaubt. Schließlich hätte ich als Suizidgefährdeter sie nutzen können, um mir damit selbst den Schädel einzuschlagen.

So etwa nach einem Monat versuchte ich, mich mit in Streifen gerissenen Bettlagen an einem Türrahmen zu erhängen. Es funktionierte nicht. Sie mussten mich nicht mal hindern, denn ich schaffte es einfach nicht. Die Klinke war zu glatt und der Behelfsstrick rutschte immer wieder davon ab. Am Ende hockte ich mit dem Rücken an der Tür und mein Therapeut stand im Flur und schaute stumpf auf mich herab. Sie hatten ihn aus dem Bett gerissen und er war seiner Arbeit nachgegangen. Ich bezweifle, dass der Mann ein großer Fan von mir war.

 

Sie gaben mir weiter Medikamente, aber es war auch eindeutig, dass ich wenige Fortschritte machte.

Mein Entschluss zu sterben war unumstößlich und sobald sie die Dosis ihrer Mittelchen langsam senkten und mein Wille träge die Oberhand über mein Handeln gewann, versuchte ich wieder und wieder meinem kläglichen Dasein ein Ende zu setzen. Einzelzelle, Gummizelle, Jacke, einmal gaben sie mir eine Überdosis, an der ich beinahe verreckt wäre. Als mir einer der Zivis später davon erzählte, dass die Schwester die Spritze falsch bereitet hatte, musste ich lachen und verfluchte den Gott, der mich immer wieder rettete.

Nun, ich will versuchen es kurz zu machen. Ich verbrachte ganze zwei Jahre in dem Sanatorium. Mit mir blieben dort Sabrina, meine Eltern, meine Kinder und meine geliebte Hanna. Sie waren immer da. In meinem Herzen und meinem Kopf. Ich schaffte es nicht, sie gehen zu lassen. Ich schaffte es aber auch nicht, selber zu gehen. Nach zwei Jahren hatten sie mich soweit. Ich akzeptierte, dass mein Wunsch zu sterben von der Gesellschaft nicht akzeptiert wurde und dass mein Egoismus inakzeptabel war. Wie konnte ich nur nach meinem Willen leben und den Menschen meiner Stadt ein derart schlechtes Gewissen machen? Sich töten zu wollen ist kulturell nicht tragbar, denn die Überlebenden müssten sich dann ja ihren eigenen Ängsten stellen. Also gut, ich würde versuchen, zu leben.

Man brachte mich in einem betreuten Mietshaus unter. Außer mir lebten hier einige Bulimiekranke, ein Drogenabhängiger und sein sieben Jahre alter Sohn und einige Zivildienstleistende, die uns betreuten. Ich nannte uns immer die Freakshow. Ich war nicht gerade sehr charmant in dieser Zeit.

Mein Zimmer maß dreißig Quadratmeter und hatte eine eigene Dusche im Bad. Die wenigen Möbel, die ich mein Eigen nannte, beschränkten sich auf ein einfaches Bett, eine Kommode, einen Kleiderschrank, Küchenmöbel und einen kleinen Tisch. Keines dieser Möbelstücke hatte ich ausgesucht. Die Kochzeile wurde nie benutzt. Wir bekamen unser Essen aus der Kellerküche eines diakonischen Krankenhauses. Ich hasste den Fraß, aber ich aß ihn trotzdem mit dem morbiden Hintergedanken, dass mich spätestens die andauernde Aufnahme dieses Zeugs ins Jenseits befördern würde. Dann könnten sie mir nicht einmal einen Vorwurf ob meines Abtretens machen. Die jungen Kerle, die uns versorgten, mochten mich. Ab und an blieb der eine oder andere von ihnen bei mir und wir saßen im Sommer zusammen auf dem kleinen Balkon meiner Wohnung und rauchten. Manchmal fragten sie mich. Ja, alles stimmt und nein, sie haben den Kerl nie gefasst. Ja, bedauerlich und abgefahren das Ganze. Wie abgefahren hätten sie es wohl erst gefunden, wenn sie gewusst hätten, was sich als nächstes zutragen sollte?

Etwa ein Jahr lebte ich als Teil der Freak-Show. Dann stieg ich eines Tages auf das Dach des benachbarten Hochhauses und ließ mich fallen. Fünfzehn Stockwerke. Es war ein windiger Tag und ich fühlte mich nicht besser oder schlechter als an anderen Tagen Es hatte sich auch nichts Außergewöhnliches zugetragen. Ich kann auch nicht sagen, warum ich es ausgerechnet an diesem Tag wieder tat. Es war einfach der richtige Tag gewesen es zu tun. Vielleicht sollte ich besser sagen, ich versuchte, es zu tun, denn wie man sich denken kann, überlebte ich.

Als ich am Rand des Daches stand frischte der Wind auf und sprühte mir einen feinen Schleier aus Regentröpfchen ins Gesicht. Ich atmete so tief ich konnte ein und verlagerte mein Gewicht nach vorne. Zuerst wurde der Wind stärker und drückte mich zurück aufs Dach und ich lachte und beugte mich weiter nach vorn und schließlich überwog meine Masse. Ich fiel vornüber und stürzte in die Tiefe.

Es ist mir unmöglich, das Gefühl des Fallens zufriedenstellend zu beschreiben. Ich glaube, es gibt für einen Menschen nichts befreienderes als den Fall. Sich durchzusetzen, den Elementen zu trotzen, schnell Auto zu fahren oder auf dem Rummelplatz die Erdanziehungskräfte in außergewöhnlicher Form auf sich wirken zu lassen – wer kennt dieses Gefühl des Freiseins nicht?

Der Fall von einem fünfzehn Stockwerke hohen Haus ist aber noch einmal etwas ganz anderes. Es ist das Überschreiten der letzten Grenzen. Der Mensch mag in die Tiefen der Ozeane und in die Weiten des Weltalls eindringen, doch das Reich des Todes wird er wohl nie erobern. Die wenigen Sekunden vor dem Aufschlag während des Falls aber sind eine kurze Erkenntnisfrist genau in diese Anderwelt. Alle Sorgen und alle Ängste lösen sich vom Menschen, wenn es in seinem Leben nur noch den Blick auf das vermeintliche Ende gibt. Es gibt keinen Gedanken mehr an die Arbeitsstelle oder an Geld und das Finanzamt. Wirtschaftliche Probleme, medizinische, was auch immer, nichts ist mehr von Bedeutung. Vor jenen die diesen letzten Schritt taten liegt nur noch die hell leuchtend freundliche Grenze des absoluten Endes. Es gibt keine Fragen mehr und keine Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Die schweren Prüfungen des Lebens sind vorüber. Was bleibt, ist die Erlösung und das kurze Prickeln der Unsicherheit über das, was kommen mag.

Ich fiel und schlug mit dem rechten Arm an einem Balkongeländer an. Dabei prallte ich so ungünstig ab, dass ich in eine starke Drehbewegung geriet. Nach drei Stockwerken schlug ich mit dem Oberkörper auf die Balkonbrüstung und ein Stockwerk tiefer schließlich prallte ich mit dem Unterkörper so auf, dass ich nach innen geschleudert wurde. Natürlich nahm ich all dies nicht wahr. Schon nach dem ersten Aufprall hatte ich die Besinnung verloren. Man rekonstruierte meinen Fall später anhand der vielen Brüche und Prellungen.

Gefunden hat mich der Mieter der Wohnung, in dessen Balkon ich gestürzt war. Er besuchte mich später einmal im Krankenhaus. Sein Name war Bernd Meurer, ein etwa vierzigjähriger Beamter bei der Stadtverwaltung. Er stand einfach in meinem Zimmer, legte eine Tafel Zartbitterschokolade auf den Beistelltisch vor meinem Bett und blickte aus dem Fenster. Es schien ihm unmöglich zu sein, mich anzusehen. Ich weiß nicht genau, ob dies am Zustand meines Gesichtes oder an der Tatsache lag, dass er sich an meinem Überleben mitschuldig fühlte. Ich bezweifle letzteres, war er doch scheinbar ein normaler Mensch, in dessen Welt es dieses lebensmüde Gefühl des Loslassens nicht gab. Wäre es anders gewesen, hätte er mich einfach über die Brüstung seines Balkons gehoben und weiterziehen lassen. Dies dachte ich, doch sagte ich nichts davon. Wie hätte ich auch sollen? Mein Unterkiefer war mehrfach gebrochen, mein Schädel zermalmt. Ich war nicht in der Lage zu sprechen.

Mein diesmaliger Krankenhausaufenthalt sollte viele Monate dauern. Die Zeit bis ich soweit genesen war, dass ich wieder in ein Sanatorium überwiesen werden konnte, verbrachte ich damit, operiert und wieder und wieder operiert zu werden. Ich habe bisher wenig davon gesprochen. Meine finanziellen Mittel waren nicht gering. Das Vermögen meiner Eltern und die Lebensversicherung Hannas hatten mich reich gemacht. Da mir Besitztum nichts bedeutete, hatte ich das Geld anlegen lassen und lebte die ganze Zeit bescheiden von den Zinsen. Jetzt führte mein Reichtum dazu, dass man mir die besten Behandlungsmaßnahmen zu Teil werden ließ. Mein Kiefer wurde gerichtet und ich bekam künstliche Knochen eingesetzt. Ein keramisches Gebiss rundete das Bild ab. Die beiden Löcher in meiner Schädelplatte wurden mit gleißendem Stahl verschlossen. Dass mein Gehirn nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war, konnte man getrost als Wunder bezeichnen. Innerhalb von zwei Jahren machten sie aus mir einen Cyborg, der den tollsten Hollywoodfiguren Konkurrenz machen konnte. Sie gaben sich die allergrößte Mühe. Mein Gesicht sollte aus kosmetischer Sicht wieder soweit hergestellt werden, dass ich zumindest einen Vergleich mit Jürgen Prochnow standhalten könnte. Leider – oder wer weiß, vielleicht zu meinem Glück – ist es auch der modernsten Medizin nicht immer möglich, vollendete Wunder zu erzeugen. Mein Unterkiefer konnte nie wieder so gerichtet werden, dass er wirklich gerade war. Das Gewebe um meine Lippen war taub und die abgestorbenen Nervenenden regenerierten nicht so wie sie sollten. Dieser Umstand führte dazu, dass mein Gesicht verschoben und entstellt wirkte und ich aussah, als würde ich zu jedem Zeitpunkt spöttisch über etwas Imaginäres grinsen. Nicht, dass mir mein Äußeres in diesen Tagen wichtig gewesen wäre.

Im Sanatorium bekam ich natürlich wieder Medikamente. Diesmal versuchten sie neue Therapieansätze. Sie mussten sich Mühe geben, schließlich war verfügt worden, dass sie meine Finanzen nutzen durften und da wollte man mir natürlich auch etwas bieten. Was aus meinem Geld wurde war mir ebenso gleichgültig wie mein Gesicht. Tief in meinem Inneren gab es nur noch eine einzige Sache, die für mich von elementarer Bedeutung war. Ich wollte diese Welt verlassen. Sie versuchten mit mir zu kommunizieren, sprachen über meine Kindheit, hypnotisierten mich und beschworen Hannas Geist herauf, um meine gequälte Seele aus den Fängen des Schnitters zu lösen. Leider kam keiner von ihnen auch nur ein einziges Mal auf die Idee mich zu fragen, warum ich solch ein Feigling war. Keiner sagte mir, dass ich feige und ein erbärmlicher Wicht war, der sich vollends seinem Selbstmitleid ergeben hatte.

Ich schmiedete den Plan des Todes. Nach nicht einmal einem halben Jahr gelang mir die Flucht. Nein, ich bin keineswegs in einer regnerischen Nacht über einen Sicherheitszaun geklettert nachdem ich einen bullbeissergesichtigen und muskelbewehrten Pfleger niedergeschlagen hatte. Ich belog sie. Sie hatten keine Chance gegen mich. Zu losgelöst war ich von dieser Welt. All ihre Befragungen, all ihre Bedenken wischte ich mit einem lockeren Lächeln auf den heruntergezogenen Lippen beiseite. Ich war normal! Das war das Problem. Ich erklärte ihnen, dass ich etwas gelernt hatte. Ich beschrieb ihnen meine Zukunftspläne. Der Aufprall hätte mein Leben verändert. Ich hatte erkannt, dass es mehr im Leben gab als Schmerz. Nach jedem Regenschauer kommt wieder die Sonne hervor. Es gab so viel, wofür es sich zu leben lohnte. Ich wolle reisen, die Südsee sehen und die Sonnenuntergänge genießen. Die Rorschachtests zeigten mir Schmetterlinge anstelle von grotesken, blutverschmierten Fledermäusen mit zerfetzten Leichenteilen in den Klauen. Die Toten ruhten und keine Geister störten meinen Schlaf.

Diese letzte Lüge fiel mir im Gegensatz zu den anderen schwer. Sie überprüften meinen Schlaf. Die seelischen Verrenkungen die ich unternahm, um die Apparate an meiner Seite zu täuschen, sind nicht in Worte zu fassen. Jeden Tag trank ich so viel ich konnte. Das führte dazu, dass ich schlecht schlief und oft Wasser lassen musste. Dies wiederum konnte von den Messinstrumenten nicht als seelisches Problem erfasst werden. Wenn ich einem Pfleger begegnete, lächelte ich – wie immer – und murmelte etwas von einer schlechten Blase. Dann humpelte ich in mein Bett zurück und schnaufte zufrieden, ehe ich krampfhaft versuchte, wieder einzuschlafen.

Mein Plan ging auf. Nach kurzer Zeit bat ich darum, einen Anwalt und meinen früheren Vermögensberater sehen zu dürfen. Diese Geste zog ihnen den sprichwörtlichen Teppich unter den Birkenstockschuhen weg. Mein Anwalt war Feuer und Flamme mein Vermögen wieder unter meine Verwaltung zu bringen. Für ihn war die Sache eine Art heiliger Krieg, den er als glorreicher Held ausfocht und schließlich gewann. Schnell stellte sich heraus, dass meine Krankenhausaufenthalte, Operationen und die gesamt Versorgungssituation zwar einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Besitzes aufgebraucht hatten, dass aber dennoch ein gutes Sümmchen übrig geblieben war. Ich verfügte, dass man das Geld auf ein neutrales Konto im Ausland überwies, denn ich wollte ja reisen. Ein Jahr später war ich frei.

Jetzt könnte sich so mancher fragen, warum ich es nicht gleich wieder tat. Ich kann diese durchaus nahe liegende Frage gar nicht so genau beantworten. Ich denke, ich wollte einigermaßen sicher gehen und ich wollte vor allem niemals wieder in dieses Sanatorium eingewiesen werden. Ja ich gebe zu, ich hatte Angst, es nicht zu schaffen und wieder ein Gefangener der Umstände zu werden. Dabei spielte es für mich kaum eine Rolle, dass ich noch weiter entstellt werden könnte. Nein, es ging mir ausschließlich um den Kontrollverlust und damit die Chance, es nicht wieder und wieder probieren zu können. Ich malte mir aus, dass ich in einem anderen Land einfach als Unbekannter bessere Karten haben würde, meinem demütigenden Leben ein Ende zu setzen.

Der Flug ging von Frankfurt nach New York. Es war im Frühling, als ich in der Metropole ankam. Verloren und klein stand ich am Schalter und humpelte schließlich ebenso verloren und klein zur Gepäckausgabe. Ich wurde auch nicht im geringsten größer, als ich das Flughafenareal hinter mir ließ und meine ersten Schritte auf amerikanischem Boden machte. Viel Gepäck hatte ich nicht zu tragen, aber mein lädierter Arm machte es mir unmöglich, den großen Koffer und die Reisetasche zusammen zu nehmen. Ich winkte mir ein Taxi heran und ließ mich zu einem Hotel bringen. Der Fahrer – wohl ein Araber – sah mir nicht ins Gesicht. Er konnte mich nicht einmal ansehen, als ich ihm dreißig Dollar Trinkgeld in die rauen faltige Hand legte.

Nachdem ich ein Zimmer für zwei Nächte – man konnte nie wissen – gemietet hatte, ließ ich mir von dem Manager den Weg zur nächstgelegenen Apotheke weisen. Der junge Mann hinter dem Tresen sah mich mit wachen Augen an und ich glaubte, eine gewisse belustigte Neugier in seinen Augen lesen zu können. Zur Apotheke sind es nur zwei Straßen, aber er hätte Medikamente hier. Ob ich Kopfschmerztabletten brauche? Nein, ich hätte andere Leiden. Er nickte freundlich und lächelte mir dabei immer noch seine Belustigung ins Gesicht. Klar, du alter Freak. Geh und kauf dir Antimonstertabletten. Kauf dir ein neues Gesicht und lass dir eine neue Seele anpassen. Neben der Apotheke gibt es einen Spirituosenladen. Kauf dir Schnaps alter Krüppel. Ertränk die Geister im klaren Äther des Alkohols.

Ich ging durch die Straße und wurde von der Abenddämmerung überrascht. Ganz unten, weit weit weg von mir, ging die Sonne zwischen den Häuserblöcken unter. Ich war verloren, hatte keine Ahnung, wo ich war. Der Stempel in meinem Reisepass bezeugte meine Anwesenheit in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich sollte in New York sein. Aber dieser Sonnenuntergang war zweifelsfrei nicht irdischen Ursprungs. Tiefrot zeichnete sich der große alte Glutball als halbe Scheibe zwischen den Hauswänden vor mir ab. Es war, als hätte Gott beschlossen, mir den Weg, der über diese Straße hinaus führte, mit der Sonne zu verriegeln.

Dann kam der Bus. Es war ganz einfach. Ich musste nur einen einzigen schnellen Schritt machen und der Aufprall des Fahrzeuges würde mein Leben in diesem wunderbaren und dennoch absolut niederschmetternden Moment ein Ende setzen. Ohne zu zögern trat ich nach vorne auf die Straße und wieder einmal verwandelte sich meine Welt in ein absolutes Inferno.

Ich versuche mir das, was an diesem Abend geschehen war, immer von oben vorzustellen. Ich bin ein Vogel, der durch die Straßenschluchten der großen Stadt gleitet. Ein kleiner unbedeutender Mann macht einen unbedachten Schritt auf die breite Straße hinaus und läuft direkt vor einen Bus, der rechtens die Kreuzung überqueren will. Was der Mann nicht sehen kann, ist der schwarze Van auf seiner Seite der Kreuzung, der dem Bus die Vorfahrt nimmt. Es ist mir bis zum heutigen Tage ein Rätsel, was sich der Fahrer des Vans gedacht hatte, als er die rote Ampel überfuhr und mit hoher Geschwindigkeit ins Führerhaus des Linienbusses krachte. Um mich herum wurde die Luft zu feinem Glasstaub. Beide Fahrzeuge wurden von mir weggeschoben, als wolle das Schicksal mir noch deutlicher machen, dass es meinen Tod nicht zulassen konnte.

Für den Fahrer des Vans galt dieses Gesetz eindeutig nicht. Er musste sofort tot gewesen sein. Der Busfahrer wurde durch den Aufprall auf seiner Seite des Fahrzeugs durch das Seitenfenster geschleudert und starb wenige Sekunden später auf der Straße. Unter den Passagieren gab es ein dutzend leichte Verletzungen. Eine Viertelminute stand ich ungläubig da und überlegte, wie ich Gott, dem Schicksal oder dem Teufel – wer auch immer für diesen Moment in meinem Leben verantwortlich war – klar machen konnte, dass ich bereit war alles zu tun, um diese Farce zu beenden. Doch dann holten mich die Schreie der Buspassagiere in die Realität zurück und ich humpelte so schnell es meine ramponierten Knochen zuließen auf die Straße, um zu retten, was zu retten war.

Die Welt drehte sich schneller in diesen Stunden. Feuerwehr, Polizei, drei Krankenwagen und hunderte von Schaulustigen bildeten mit ihrem Geheul und Geschnatter den Ursprung einer Kakophonie von Lauten, die ich niemals wieder vergessen werde. Etwas später stellte man mir Fragen und noch später fand ich mich in meinem Hotelzimmer wieder. Den Gang zur Apotheke hatte ich mir gespart.

Stundenlang saß ich auf meinem frisch bezogenen Bett und starrte das Fenster an. Diesmal hatte ich mir keine Knochen gebrochen. Ich war nicht von dem Bus abgeprallt und hatte Hände, Füße oder schlimmeres verloren. Zwei Menschen waren heute Nacht vor meinen Augen gestorben. Ich aber lebte immer noch. Mit verkniffenem Gesicht dachte ich über das Geschehene nach. Ich lebte immer noch. Wie konnte das sein? War ich wirklich verrückt? Bildete ich mir all dies nur ein? Ich hatte einen wirklich schlimmen Autounfall überlebt und einen Fuß verloren. Ich war nicht von einem Irren getötet worden, denn ich war nicht vor Ort gewesen, um ihn vom Mord an meiner Frau und meinen Kindern abzuhalten. Ich war nicht in der Lage gewesen, mich mittels Tabletten zu töten, weil die Gesellschaft mich überwacht hatte. Der Sprung von einem Hochhaus hatte mich nicht umgebracht. War der Wind eine absichtliche Geste des Schicksals gewesen? Hatte er mich absichtlich in den Balkon gedrückt? Mein Körper war entstellt. Ich konnte mich nur noch eingeschränkt bewegen. War dies der Versuch, mich an weiteren körperbezogenen Versuchen zu hindern? Und dann der Bus. Hatte der Teufel diesen schwarzen Höllenvan geschickt? Ich hatte den Fahrer des Wagens nicht einmal zu sehen bekommen. Vielleicht hatte es ihn gar nicht gegeben. Vielleicht hatte der Teufel selbst dieses Auto in den Bus gelenkt, um mich mit dem Tod des Busfahrers zu strafen. Vielleicht waren die Verwüstungen an meinem Leib ausreichend und nun würde ich vollends wahnsinnig werden. Ich ging ins Bad und übergab mich. Zusammengekrümmt und von Schmerzen gepeinigt verbrachte ich fast die ganze restliche Nacht vor der Kloschüssel.

 

Früh morgens wusch ich mich und verließ das Hotel und die Stadt. In einem kleinen Reisebüro erstand ich eine Passage per Bus in Richtung Westküste. Ich wollte Busfahren. Mit dem morbiden Drang im Herzen, dem Schicksal oder vielleicht mir selbst zu zeigen, dass ich noch keineswegs geschlagen war, wollte ich mit einem verdammten Bus durch die Staaten reisen. Die Fahrt ging um neun Uhr los. Ich hatte Glück, dass noch Plätze frei waren. Aber ich hatte ohnehin das Gefühl, langsam zu erfassen, wie das Schicksal meine Wege plante. Nach Einschlägen wie dem Gestrigen folgte immer so eine Art Ruhepause. Jedes Mal wenn das Chaos sich gelegt hatte, bescherte mir dieses verdammte Schicksal ein wenig Frieden. Ich stellte mir das Schicksal als einen kleinen perversen deutschen Arzt vor, der für seinen Dienstherrn gefangene Spione folterte und immer im größten Schmerz locker ließ und ihre Wunden behandelte. Mit der Wange an der Busscheibe, den letzten Blick gen Westen gerichtet, schlief ich ein.

New York, Philadelphia, Pittsburgh, Chicago, Springfield, St. Louis, Tulsa, Oklahoma City, Amarillo, Santa Fe, Albuquerque, Flagstaff, Los Angeles – die Route 66 – acht Staaten, drei Zeitzonen, von einer mir fremden Welt in die nächste. Die Fahrt dauerte drei Tage, wobei wir unterwegs nur zweimal in staubigen Motels übernachteten. Ich aß wenig und sah mir noch weniger an. Da es sich bei der Fahrt nicht um eine Vergnügungs- oder Kulturreise handelte und die meisten meiner Mitfahrer Arbeiter waren, die ihren Urlaub nutzten, um die Familie zu besuchen, lernte ich die Route auch nicht als Tourist kennen.

Dieser Umstand verschweißte mich irgendwie mit diesen Leuten. Ich war kein Fremder, der die Sehenswürdigkeiten Chicagos fotografieren wollte. Es interessierte mich nicht, wo Al Capone gelebt hatte. Es interessierte mich nicht, wo man hier nach Gold gesucht hatte und es war mir absolut gleichgültig, wo hier die letzten Indianer gestorben waren. Ich wollte nur weg. Mir war nicht klar, wohin mich meine Reise führen würde. Natürlich wusste ich, dass wir als Ziel der Fahrt Los Angeles ansteuerten, aber für mich war auch diese Stadt nicht das eigentliche Ziel. Dies wiederum trennte mich von den anderen Fahrgästen wieder. Ich war nicht wie sie, freute mich nicht auf die Ankunft. Für mich würde es keine Ankunft geben. Ich schluckte Staub und schlief auf harten Matratzen. Ich tat Buße. Mein Herz brannte und mein Geist war leer und verödet. Ich ließ mich treiben.

 

Eines Morgens blickte ich zum ersten Mal in meinem Leben auf die Weiten des Pazifischen Ozeans hinaus. Die Luft war kalt und das dunkle Wasser war es zweifelsfrei auch. Um mich herum erwachte der Santa Monica State Beach zum Leben. Die Hauptattraktion dieses Strandes ist der Santa Monica Pier, dessen Jahrmarkt, Karussells, Achterbahn und andere Fahrgeschäfte hunderte von Touristen aus aller Welt herbei lockten. Was machte es da schon, dass man das Wasser an diesem Strand nicht gerade als sauber bezeichnen konnte? Am Ufer standen übergroße Stühle, in deren Lehnen sich der Westwind fing und die Luft mit wundersamen Gesängen erfüllte. Die ersten Würstchenbuden öffneten ihre Verschläge und auf den betonierten schmalen Pfaden für die Fitness-Fraktion tummelten sich die ersten Morgensportler. Ich aber stand nur da und blickte auf das unruhige Meer hinaus. Aus einem mir unbekannten Gefühl heraus stellten sich mir die feinen Härchen in meinem Nacken und ich widerstand nur mit äußerster Mühe, meine Blase zu entleeren. Mir war kalt. Wohin ging ich nur? Als ich mich schließlich vom Wasser abwandte und den salzigen Geschmack meiner Lippen bemerkte, sah ich ihn an der Theke der Achterbahn stehen.

Zuerst wollte ich meinen Augen nicht trauen, aber er war es tatsächlich. Ich rieb mir die Augen und dann blickte ich gen Himmel, als wollte ich erkunden, ob die Götter zu mir herabsahen und mich auslachten. Als ich meinen Blick wieder der Achterbahn zuwandte, waren alle Zweifel beseitigt. Er trug immer noch den hässlichen dunkelgrünen Parka.

Ich konnte es nicht fassen. Tausende von Kilometern war ich über den Atlantischen Ozean und dann durch Nordamerika gereist, um hier dem Mörder meiner Frau und meiner Kinder, ja meiner Träume und meines Lebens gegenüber zu stehen. Ich hatte nie wirklich an so etwas wie ein übergeordnetes Karma geglaubt. Religionen interessierten mich bestenfalls als kulturelle und anthropologische Feinheiten meiner Urlaubserinnerungen. Gott war für mich eine Legende, wie all die anderen Märchenfiguren meiner Kindheit auch. Und dennoch stand ich hier. Ich war hier, an diesem, meinem Zuhause so endlos weit entfernten Ort und hier und jetzt traf ich mit meinem Schicksal zusammen. Zufälle bestimmen das Leben eines jeden Menschen, aber konnten Zufälle auch derart extrem unwahrscheinliche Zusammenkünfte bewerkstelligen? Alles in mir war Stille. Ich stand da und vergaß das Atmen. Vielleicht wäre ich am Sauerstoffmangel verendet, hätte sich nicht eine Frau zu ihm gesellt.

Sie musste Ende dreißig gewesen sein, hatte offenes ungepflegtes Haar und trug ein etwa zweijähriges Kind auf der linken Hüfte. Meine Kehle schnürte sich zu und gerade als ich mich erinnerte zu Atmen, blieb mir endgültig die Luft weg.

Als ich die Augen öffnete, sah ich in das sonnenverbrannte Gesicht eines jungen Mannes. Er trug eine Jeansjacke mit abgerissenen Ärmeln, Shorts und hatte Rollerblades an den Füßen. Mit einem besorgten Lächeln auf den Lippen tätschelte er mir unbeholfen die Wangen und sprach dabei sanft auf mich ein. Ihm zunickend erhob ich mich so gut es ging und richtete mich steif auf. Meine Kleidung, ohnehin von der Fahrt sehr mitgenommen, war voller Sand. Ich klopfte mich ab und dann kam die Erinnerung. Hektisch sah ich mich um. Von ihm gab es keine Spur.

Ohne weitere Erklärungen bedankte ich mich bei dem Skater und wimmelte ihn ab. Mit mir sei alles in Ordnung und nein, ich würde sicher nicht ins Krankenhaus gehen – ganz gewiss nicht.

Vorsichtig ging ich zu der Bude, welche der Achterbahn gegenüber aufgestellt war. Der Besitzer, oder zumindest der Pächter, war ein feister Mann in einem fettbeschmierten Rippen-Shirt. Seine glänzende Glatze ging in einen wulstigen Nacken über und seine Arme sahen aus wie die Würste auf seinem schmutzigen Grill. Wer der Achterbahnmann sei? Roman, den Nachnamen kenne er nicht. Roman – ob dies sein richtiger Name war? Sicher nicht. Die Frau und das Kind? Ja, das ist Susann und Jonny. Ich fand heraus, dass er in einem Wagon weiter oben Richtung Will Rogers Beach wohnte. Zumindest seit ein paar Wochen war dies wohl so, denn er arbeitete noch nicht so lange für den Besitzer der Achterbahn. Was ich von Roman wolle. Das sei nicht wichtig. Ich ging.

Ich humpelte Richtung Norden. Wie oft hatte ich mir vorgestellt, was ich tun würde. Etwa jede Nacht hatte ich die Decke meines Krankenzimmers angestarrt und mir vorgestellt, was ich tun würde, wenn ich noch einmal vor ihm stehen würde. Damals hatte ich nicht einmal seinen Namen gewusst. Roman. Wie viel direkter hätte ich meinen Hass kanalisieren können, wären mir nur diese beiden Silben seines Namens bekannt gewesen. In meinen Phantasien hatte ich ihn mit dem Einkaufswagen in die Büchsenregale gedrückt. Wenn er es dann geschafft hatte sich hoch zu rappeln, hatte ich ihm in die Seite getreten wie es die harten Kerle in den Action-Filmen mit ihren Gegnern taten. Manchmal kam ich nach Hause und packte mir einen großen Schraubenschlüssel. Ich rannte ins Schlafzimmer und schlug zu und holte aus, um wieder und wieder und immer wieder zu zuschlagen. Aber sooft ich dies träumte, sooft ich ihn in meinen Gedanken tötete, Sabrina und mein kleiner Sohn waren immer tot und ich kam immer zu spät. Nie schaffte ich es rechtzeitig, um Achim zu retten. Nie gelang es mir auch nur ein einziges Mal, Sabrina nach meiner Tat in den Arm zu nehmen und mit ihr, anstelle um sie zu weinen.

Meine Schritte führten mich kraftlos den Strand entlang. Mir war nicht klar, wie weit es sein würde. Als ich nach über zwei Kilometern immer noch nicht das Ziel erreicht hatte, wandte ich mich Richtung Stadt und nahm ein Taxi. Bis zur Mittagszeit fuhr ich dann am Will Rogers State Historic Park entlang, aber natürlich fand ich Romans Unterkunft nicht. Los Angeles war gigantisch. Ich beschloss abzubrechen und zu planen.

Mit dem Taxi fuhr ich in die Innenstadt und nahm mir ein Zimmer in einer kleinen Pension in der Nähe eines Marktes, dessen Namen ich vergessen habe. Den ganzen Nachmittag zermarterte ich mir das Gehirn über das, was ich tun sollte. Ich wollte ihn zur Rede stellen. Aber das war Unsinn. Ich konnte auch schlecht mit dem Finger auf ihn zeigen und nach der Polizei rufen. Wer war ich schon? Ihn erschießen wäre eine durchaus attraktive Lösung für meine gepeinigte Seele gewesen, aber woher eine Feuerwaffe nehmen? In den Filmen ging man in eine düstere Kaschemme und schob ein Bündel Geld über einen ölig schmutzigen Tisch. Ich hatte nicht den geringsten Plan was ich tun sollte.

Es wurde langsam Abend und ich war mir absolut sicher, keine einzige Nacht hier verbringen zu können. Diese Stadt war zu klein für Roman und mich. Ich musste handeln. Es musste enden. Noch in dieser Nacht. Ungewaschen und mit leerem Bauch – ich hatte den ganzen Tag vor Aufregung nichts zu mir genommen – bestieg ich schließlich wieder ein Taxi und ließ mich wieder Richtung Strand fahren. Zuerst erschrak ich, denn der Fahrer verstand mich nicht so gut und wir fuhren über eine Stunde kreuz und quer durch die Gegend und fanden den von mir gesuchten Rummelplatz nicht, aber gerade als ich verzweifeln wollte, sah ich am Nachthimmel auf der dem Pazifik zugewandten Seite des Wagens die Leuchtschrift der riesigen Achterbahn. Wie ein gewundenes urtümliches Ungeheuer erhob sie sich als schwarze Silhouette an meiner Seite. Aufgeregt gab ich zu verstehen, dass ich aussteigen wollte.

Die Luft um mich herum schien zu brennen. Der laue Frühlingsabend war von den Stimmen der Nachtschwärmer erfüllt. Überall tummelten sich Paare und schlenderten eng umschlungen ihrem Glück entgegen. Familienväter hoben ihre Kinder in die Fahrattraktionen und Mütter winkten den Kleinen jedes Mal, wenn sie an ihnen vorbei schwirrten, lachend zu. Ich stand verloren unter diesen Menschen und machte schließlich meinen ersten Schritt dem vorletzten Kapitel meiner Reise entgegen.

An der Achterbahn herrschte ein unglaubliches Gedränge. Eine handgemalte Tafel verkündete, dass heute Familientag wäre und alle Fahrten nur die Hälfte des normalen Preises kosteten. Familientag – mein Kopf schmerzte. Ob Jonny sein Sohn war?

Ich erreichte das kleine Kassenhäuschen und sah drinnen die blonde Frau sitzen. Sie fertigte mit einem genervten Lächeln einen Kunden nach dem anderen ab und wischte sich dabei immer wieder die Haare aus dem schwitzenden Gesicht. Verdammt – nichts an ihr war wie bei Hanna und doch, diese Geste versetzte mir einen so endlos schmerzenden Stich, der mich mitten ins Herz traf.

Dann rief der erste der in der Schlange wartenden Leute ich solle mich nicht vordrängen und wie alle anderen hinten anstellen. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich kein Interesse an dieser Fahrt hatte. Sie hatten ja keine Ahnung, dass ich schon in einer Achterbahn saß. Woher hätten sie das Verständnis nehmen sollen, dass mein ganzes Leben eine Achterbahnfahrt gewesen war?

Dann trat er aus der Menge und versetze mir einen Stoß gegen die Schulter. Wie in Zeitlupe drehte ich mich zu ihm um und verlor das Gleichgewicht. Verpiss dich alter Sack. Schlaf deinen Rausch aus und gier nicht nach den Mädchen hier. Er verpasste mir, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen, einen Tritt auf den Hintern und einige der Wartenden protestierten. Dann brüllte er mich noch einmal an, doch als er wieder ausholte, um mich zu treten, hielt er inne. Unsere Blicke trafen sich und ich konnte deutlich spüren, wie die Luft um uns zuerst mehrere Grad anstieg und dann mit einem saugenden Geräusch in meinem Hirn in den Keller stürzte.

Das Erkennen in seinen Augen war eine Mischung aus ungläubigem Entsetzen und dem sicheren Wissen, dass es keine Tat auf dieser Welt geben konnte, die für immer ungesühnt bleiben würde. Ich konnte genau sehen, wie die letzten drei Jahre seines Lebens durch seinen Kopf flimmerten. Seine Augen waren wie zwei kleine Fenster im Vorführraum eines Kinos und sein Dasein war ein Film im Schnellvorlauf. Er schluckte und versuchte, die Fassung wieder zu gewinnen.

Mit aller Kraft drückte ich mich hoch und ein Mann an der Kasse trat zu mir und half mir.

Ich sah Roman an und wusste nicht, was ich tun sollte. Er hatte Angst. Wer würde sich um seinen Sohn kümmern? Wollte er ins Gefängnis gehen? Sicher nicht.

Wir starrten uns noch eine volle Minute lang an und dann löste sich das stählerne Band um meine Brust langsam und glitt rasselnd zu Boden. Es reichte, dass mein Leben vorbei war. Was spielte es für eine Rolle ob er lebte oder was er tat? Es war absolut und vollends egal was andere Menschen taten, denn mein eigenes Leben sollte enden, nicht das ihre. Ich ließ den Kopf sinken und wandte mich von der Szene ab. Mein Auftritt war meiner Meinung nach vorbei, der Vorhang konnte fallen.

Roman aber sah das ganz anders. Er dachte wohl, dass ich mich nun auf den direkten Weg zur Polizei machen würde. Wie hätte er ahnen sollen, dass ich ihn gerade frei gelassen hatte? Er wusste ja nicht einmal, dass ich schon einen ganzen Tag Zeit gehabt hatte, ihn anzuzeigen.

Ich war keine hundert Meter von der Achterbahn entfernt müde in den Sand nahe der Wellen gesunken, als er im Schutze der Dunkelheit das Feuer auf mich eröffnete.

Das Gefühl, eine Bleikugel in die Brust zu bekommen, ist unbeschreiblich. Zuerst einmal ist es nicht viel anders als der Einschlag einer extrem kräftigen Faust und der Schmerz lässt Sekunden auf sich warten. Doch dann durchströmt er den Körper und erfüllt ihn wie gierige Nebelschwaden ein Gebirgstal an einem Sommermorgen. Erst wenn das Gehirn realisiert was geschehen ist, wird aus Nebel Lava und die Flut dieser heißen Gesteinsmassen verbrennt den Geist und sengt alle Nerven auf einmal an. Man schnappt nach Luft, aber die Lunge – so sie nicht ohnehin getroffen zusammenklappt – versagt vom Schock gelähmt den Dienst. Dann taumelt man zurück, fällt und taucht mit etwas Glück im Unglück in die Tiefen der gnädigen Bewusstlosigkeit.

Bei mir geschah das Beschriebene dreimal hintereinander. Ich wurde nicht bewusstlos. Es war, als hätte mein Körper beschlossen, diesen endgültigen Tod nach all den angemahnten Toden genießen und vollends auskosten zu wollen. Zurückgesunken wand ich mich bei jedem Treffer krampfend zusammen und krallte meine Hände in den feuchten Sand des Meeres. Wie schon so oft in meinem Leben hatte der Tod die Kontrolle über all mein Sein übernommen. Den Schützen konnte ich nur noch davonlaufen sehen. Warum ich nicht auf der Stelle gestorben war, kann ich genauso wenig sagen, wie ich die Frage nach der Tatsache unbeantwortet lassen muss, dass ich auch am heutigen Tage noch am Leben bin.

Blutend wartete ich auf die Engel, die mich endlich erlösen und mit sich nehmen sollten, aber sie kamen nicht. Die Sterne drehten sich über mir langsam und träge, wie sie das immer und zu jeder Zeit taten und ich konnte nichts tun, als dazuliegen und zu versuchen, zu atmen. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, dass ich einfach aufhören könnte zu leben. Ich erwartete den Tod, tat aber auch nichts, um ihn herbei zu zitieren. Anstelle des Schnitters kam ein Mädchen mit einem Hund. Der Golden Retriever leckte meine Wangen und alles, an was ich mich von da an noch erinnern kann, sind sich drehende Lichter in eisigem Blau und merkwürdig feurigem Rot. Das Heulen der Sirenen vermischte sich in meinem Gehirn mit dem Bellen des Hundes und dem Schluchzen seiner Herrin.

Und wieder einmal erwachte ich in einem Krankenhaus. Die folgenden Wochen erscheinen mir heute in einem unglaublich profanen Licht. Der deutsche Botschafter kam zu mir. Die Polizei gab Erklärungen ab. Spezialisten schäumten meine Lunge auf. Menschen, die ich nicht kannte, gaben mir ihr Blut. Sie erwischten Roman gleich am Morgen nach der Tat. Das Hundemädchen besuchte mich und weinte Freudentränen an meinem Bett. Sie war etwa fünfzehn Jahre alt und ihrem Vater, der sie begleitete, gefiel eindeutig mein Gesicht nicht.

Roman war auf der Flucht angeschossen worden. Ein Beintreffer. Ich sagte ihnen, sie sollen ihn laufen lassen. Natürlich war das nicht möglich. Der Staatsanwalt erhob Anklage wegen so vieler Verbrechen, dass es wahrlich an ein Wunder gemahnte, dass er nicht schon viel früher erwischt worden war. Natürlich identifizierten sie ihn auch für eine Menge Verbrechen, die er in Deutschland verübt hatte, aber den Mord an meiner Frau und meinen Kindern sprachen sie nicht an. Sie dachten, er hätte mich ausrauben wollen und Mord hatte bisher nicht auf seiner Liste gestanden. Ich sagte nichts. Es war mir nicht mehr wichtig. Es spielte für mich überhaupt keine Rolle mehr was aus ihm wurde. Ich hatte losgelassen.

Zwei Tage vor meiner Entlassung, etwa drei Monate nach dem Roman auf mich geschossen hatte, bekam ich einen Brief von Susann. Sie schrieb mir, dass sie es nicht verstünde und wie leid es ihr täte. Ganz unten auf dem Brief hatte ihr Sohn mit ihr unterschrieben. Neben den beiden krakeligen Unterschriften gab es mehrere kleine dunkle Tränenflecken. Ich warf den Brief in den Mülleimer neben meinem Bett. Nicht weil ich ihr böse war, auch nicht, weil ich ihr nicht glaubte oder sie für scheinheilig hielt – nein. Ehrlich, ich glaubte ihr, dass sie es nicht lustig fand, dass ihr Freund und der Vater ihres Kindes ein Mörder war. Der Brief landete im Papierkorb, weil ich ihn nicht brauchte, denn ich würde nicht mehr lange leben. Ich hatte ihn gelesen und fertig.

Als ich das Krankenhaus verlassen konnte wollte mich die Presse vierteilen und in kleinen Stückchen auf den verschiedenen Medienplattformen darstellen. Auch die Botschaft wollte mich herumreichen und am besten aus dem Land schaffen, denn der Aufstand der Medien passte ihnen nicht in den politischen Alltag. All dies spielte für mich keine Rolle. An einem sonnigen Morgen verließ ich das Krankenhausgelände durch eine Hintertür, die ich mir von einem schwarzen Krankenhelfer durch Bestechung öffnen ließ und humpelte zu Fuß Richtung Strand. Das Meer zog mich an. Ich war mir seit dem Abend der Schüsse sicher, dass nichts auf der Welt mich töten würde außer dem Meer.

Ein Stück vom Krankenhaus entfernt bestieg ich einen Linienbus und fuhr Richtung Strand. Es war fast Mittag als ich ankam. Es gab hier Bootsverleihfirmen. Leider wollten diese eine Art Erlaubnisschein, so etwas wie einen Führerschein für Boote. In meinem Geldbeutel gab es noch über dreitausend Dollar. Ich zückte das gesamte Geld vor der Nase des Betreibers einer der kleineren Läden und schließlich willigte er ein. Er wollte darüber hinaus meine Papiere als Pfand und ich wunderte mich ehrlich gesagt, dass er mich überhaupt ziehen ließ. Seine Miene war mehr als sorgenumwölkt und spiegelte eine Skepsis wider, die man sonst nur auf der Stirn einer Maus sehen würde, die zwischen den Tatzen einer Katze lag. Dennoch nickte er das Geld zählend und zeigte mir das Boot.

Natürlich hatte ich so gut wie keine Ahnung von Motorboten. Das Ding hatte aber ein Steuerrad wie ein Auto und die drei Hebel daneben gaben vor und zurück die Geschwindigkeit an. Das konnte kein Hexenwerk sein. Nach kurzer Einweisung, es musste mittlerweile nach ein Uhr sein, fuhr ich, auf das Meer hinaus. Los Angeles, die Stadt der Engel, ließ ich hinter mir.

Mein Herz war schwer wie ein Stahlblock. Mein Leib war Schmerz. All die Verletzungen, die ich mir in meinem Leben zugezogen hatte, forderten ihren Tribut an meinen Nerven. Viele Stunden fuhr ich hinaus und ignorierte alle eingehenden Funksignale. Einmal überflog mich ein Hubschrauber und ich dachte schon die Fahrt wäre vorbei, aber die Piloten kümmerten sich nicht um meine Belange. So wurde es langsam Abend und mit der Gischt im Gesicht genoss ich meinen vermeintlich letzten Sonnenuntergang. Als es vollends dunkel geworden war und nur noch die Sterne meine Welt definierten, hielt ich das Bootan.

Eine kleine Leiter führte auf den spitz zulaufenden weißen Bug. Ich hatte etwas Mühe mit der Prothese das Hindernis zu überwinden, aber ich schaffte es und rutschte, die Hälfte auf den Knien, den Rest aufrecht, ganz nach vorne.

Da stand ich nun. Um mich herum das weite Meer. Ich sog die kalte Nachtluft ein und krümmte mich zusammen, als diese meine wunden Lungenflügel verbrannte. Ein Seil und ein Stein wären gut gewesen überlegte ich laut, aber dann winkte ich lachend ab. Mein Herz war mittlerweile so schwer geworden, dass ich wie ein Felsen hinab in mein wässriges Grab gezogen werden würde.

Das Drama ist zu Ende. Warum also tritt da noch einer auf? Ich dachte an diese Worte Mellville´s, als ich mich langsam vornüber gleiten ließ, wie einst auf dem Dach des Hauses. Sollte diesmal das alles zermalmende Element des Wassers es besser machen als damals die Luft. Das Letzte, was ich vor meinem Tauchgang zu hören bekam, waren merkwürdig kehlige Laute weit entfernter Meeresgeister. Dann schlossen sich die Wogen über meinem Kopf und ich versank.

 

Ja, nun – was soll ich sagen? Ich bin am Ende meiner Geschichte angekommen oder am Anfang wie man es nehmen mag. Es bleibt nur noch zu berichten wie ich hierher nach Ilwaco geraten bin. Es hatte sich natürlich nicht um Geisterstimmen gehandelt, die meinen letzten Freitodversuch begleitet hatten. Wie jeder schon ahnen wird, waren es die Gesänge von Walen gewesen, die da meine Sinne erreicht hatten. Wahrscheinlich hatten die Meeresriesen sich darüber unterhalten, was dieser alte, verkrüppelte und auch ansonsten ganz und gar sonderbare Mann, so Mutterseelen allein und weit weg von seiner Spezies, zu tun vorhatte.

Als ich zu ihnen hinab tauchte hoben sie mich auf und trugen mich zur Oberfläche zurück. Warum sie das taten? Warum sie mich nicht einfach auf den Grund sinken ließen? Woher soll ich das wissen? Sie taten es. Dann reiste ich eine unbestimmbare Zeit auf ihren Rücken. Immer wieder merkte ich in meinen Fieberträumen, dass ich ihnen zu entgleiten drohte; doch jedes Mal schoben mich glatte Schnauzen zurecht, hoben mich breite Brustflossen auf die Stirn eines Kameraden. An der Mündung des Columbia Rivers, der die beiden Staaten Washington und Oregon voneinander trennt, überließen sie mich wieder der alleinigen Obhut des Meeres. Anstelle von der Strömung hinaus getragen zu werden, zog mich dann ein Fischer aus dem nahegelegenen Ilwaco in sein Boot und musterte mich mit doch sehr verwundertem Blick. Freilich bekam ich davon nur sehr wenig mit.

Es dauerte eine Weile bis ich mich erholte, doch war ich nicht krank und hatte auch ansonsten keine weiteren Schäden durch die Reise genommen. Über achthundert Kilometer hatten mich diese Tiere durch den Pazifik getragen. Wie lange mochten sie für diese Strecke gebraucht haben? Der Fischer, der mich rettete, gab mir ein Bett für die Nacht. Er sprach so gut wie kein Wort zu mir. Seine Vorfahren waren Inuit gewesen. Er fischte hier schon zeit seines Lebens.

Ich sitze hier in der Frühlingssonne am Pier und lasse meinen Blick über die Hafenanlage schweifen. Ich denke wenig. Nur soviel sei gesagt: Ich bin am Leben und habe verstanden, dass dies so bleiben soll.

Wer das entschieden hat? Ihr Männer und Frauen dort draußen in der weiten Welt lasst euch sagen: Es ist euer eigenes Geschick, das euch leben und streben lässt. Jetzt mag der eine oder andere mahnend den Finger heben und behaupten, dass doch gerade ich sehen müsse, dass äußere Umstände mich so oft am Leben gehalten hatten. Am Ende hätten sogar wilde Tiere sich gegen meinen Willen erhoben und darüber hinaus hätte mein Leib das Wunder vollbracht, diese so unglaubliche Reise ohne Wasser und Nahrung zu überstehen. Und? Was auch immer in meinem Leben geschehen war und was sich noch zutragen soll, ich allein bin es, der heute und hier beschließt, dass er nicht wieder versuchen wird, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dies ist meine alleinige Entscheidung. Würde ich mich zu anderem entschließen, hätte ich wirklich und wahrhaftig sterben wollen oder wollte ich es jetzt in diesem Moment – es würde mir gelingen!

Es ist Frühling und ich atme die kalte Meeresluft des Pazifischen Ozeans ein. Vielleicht ist dies mein erster Frühling, den ich bei vollem Bewusstsein erlebe.

Ich lebe!